November 2023 – Februar 2024
Was erinnern wir aus der NS-Vergangenheit?
von Ralf Piorr
Herne today ist smart, weltoffen und auf allen Ebenen online. Da nervt es, wenn bei historischen Bezügen immer wieder die „braune Vergangenheit” aufploppt. So entpuppte sich die liebgewonnene Datierung der Cranger Kirmes schlichtweg als Nazi-Fake und eine ehrwürdige Gemäldereihe der Spitzen der Stadtverwaltung musste aus dem Rathaus entfernt werden, weil sich die Biographien der Portraitierten nicht unwidersprochen verdienstvoll erläutern lassen.während das Öffentliche Gedächtnis der Gesellschaft in der Forschung und in den Formen der Erinnerungskultur durchaus aufgeklärt und differenziert ist, werden bei der lokalen Überlieferung die Erkenntnisse über Täter, Opfer, Profiteure und Mitläufer merkwürdig unscharf. Familienunternehmen wie der einstige Bauriese „Heitkamp“ oder die „Flottmann-Werke AG“ haben zwar in ihren Glanzzeiten etliches zu ihrer Unternehmensgeschichte publiziert, aber dass sie massiv vom Unrecht der Zwangsarbeit profitierten, wurde dabei konsequent verschwiegen. Ähnliches gilt für die Stadtverwaltung. Hermann Meyerhoff, der als führender Verwaltungsfachmann bei der Stadt Herne von 1927 bis 1953 drei politische Systeme in Amt und Würden durchlief, galt als gottgläubiger Katholik, Nicht-Parteimitglied und unbescholten. Aber kann man ohne persönliche Schuld sein, wenn man einer Verwaltung vorsteht, die auf lokaler Ebene an Diktatur, Ausgrenzung, Euthanasie und Shoah mitarbeitet? Noch gravierender wird die Umdeutung der Geschichte, wenn es um die Rolle der eigenen Vor- fahren während der NS-Zeit geht. In fast jeder Familie in Deutschland hat der Nationalsozialismus seine Spuren hinterlassen, aber kaum eine andere Erzählung ist so von Verdrängung und Entlastungsstrategien geprägt wie das Familiennarrativ. Es fällt offensichtlich schwer, die eigenen Angehörigen als Beteiligte des Nazisystems zu begreifen. Vielmehr finden sich vorrangig Geschichten über das Leiden der eigenen Angehörigen. „Opa war kein Nazi” stellte eine wegweisende Studie über Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis schon 2002 fest.Dabei sind die Erkenntnisse der „Opa-Studie” bis heute aktuell. Nach der MEMO-Studie zur Erinnerungskultur verneinen 70 Prozent aller Befragten, dass es über- haupt NS-Täter in der eigenen Familie gegeben hätte. Etwa ein Drittel berichtet hingegen davon, Opfer unter den eigenen Vorfahren gehabt zu haben und glaubt zudem, dass ihre Vorfahren potentiellen Opfern geholfen haben. Eine Einschätzung, die dem Alltag im Nationalsozialismus grundlegend widerspricht. Ein Workshop im Heimatmuseum Unser Fritz mit Karolin Baumann und Annina Hofferberth, den Leiterinnen des Projekts „Erzähl mal“ im Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster, bietet allen Interessierten Gelegenheit, in der eigenen Familie auf Spurensuche zu gehen.Im Jahr 2022 hat der Rat der Stadt Herne beschlossen, im ehemaligen Polizeiamtsgebäude am Friedrich-Ebert-Platz eine Mahn- und Gedenkstätte einzurichten. Aus diesem Grund bildet die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Polizei im Ruhrgebiet einen zweiten Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe vom November 2023 bis zum Februar 2024.Auch wenn die konkrete Ausgestaltung noch einige Jahre dauern wird, so kann das Polizeigefängnis als Erinnerungs- und Geschichtsort neue Impulse für die historisch-politische Bildung setzen. Die kritische Hinterfragung der Stadt- und Familiengeschichte ist eben auch eine Chance, dem erstarkenden Rechtsextremismus In unserer Gesellschaft zu begegnen und demokratisches Handeln grundlegend zu verstehen. Und das haben wir nötig.
Ausstellung: Unrechtsort. Das Polizeiamt in Herne 1933-1945
Eine Ausstellung des Förderkreises Mahn- und Gedenkstätte Polizeigefängnis inZusammen- arbeit mit dem Stadtarchiv HerneAn keinem anderen Ort in unserer Stadt manifestie-ren sich Herrschaft und Gewalt der NS-Diktatur soauthentisch wie am Polizeiamtsgebäude. Ab 1933wurde das Polizeiamt zu einem Ort der brutalenMachtausübung der Nationalsozialisten. Die Verfol-gungsmaßnahmen richteten sich gegen alle „Fein-de der Volksgemeinschaft“: Widerständler aus derArbeiterbewegung, Oppositionelle aus den christ-lichen Kirchen, die Zeugen Jehovas, Juden und Sintiund Roma. Dabei dienten die „Schupos“ vor Ort als .unentbehrliche Helfer des Gewaltapparates. In den letzten Kriegsjahren wurden zahlreiche sowjetischeZwangsarbeiter und Kriegsgefangene ins Polizeige- fängnis eingeliefert. Viele starben dort unter unge- klärten Umständen.
Stadtarchiv Herne, Kulturzentrum
44623 Herne
Willi-Pohlmann-Platz 1
9. November 2023 – 28. Februar 2024
Ausstellung: Was habe ich damit zu tun? Der Nationalsozialismus im Stadt- und Familiengedächtnis in Herne und Wanne-Eickel
Eine Ausstellung des Heimatmuseums Unser Fritz. Die Ausstellungseröffnung mit Ralf Piorr (Kurator), Christian Donovan (Musik) und weiteren Gästen findet am Donnerstag, den 16. November 2023, um 19.00 Uhr statt.War ein NSDAP-Mitglied zwangsläufig auch ein Nazi? Konnte man eine Stadtverwaltung leiten, ohne schul- dig zu werden? Was haben meine Eltern und Groß- eltern in der NS-Zeit gemacht? Die Ausstellung zeigt an lokalen Beispielen das problematische Verhältnis zwischen der Erinnerung an die NS-Vergangenheit im Familiengedächtnis und den Lebensumständen in der NS-Zeit.
Heimatmuseum Unser Fritz
44653 Herne
Unser-Fritz-Straße 108
16. November 2023 – 11. Februar 2024
Schützen und Dienen. Die Polizei im Ruhrgebiet zwischen Weimarer Republik und NS-Diktatur.
Vortrag von Daniel Schmidt (Leiter des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen)
In der Weimarer Republik gab es umfassende Poli- zeireformen, die zur Demokratisierung und Moder- nisierung der Polizei führen sollten. Als die National- sozialisten 1933 an die Macht kamen, übernahmen sie auch die Kontrolle über die Polizei. Spätestens die faktische Verschmelzung mit der SS ab 1936 machte die Polizei zu einer der tragenden Säulen des „Dritten Reiches”. Sie hatte einen wesentlichen Anteil an der Gewalt- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes bis 1945. Der Vortrag thematisiert diese Zusammenhänge am Beispiel der Polizei- verwaltungen des Ruhrgebiets, insbesondere des Polizeipräsidiums Bochum, zu dem auch die Poli-zeiämter in Herne und Wanne-Eickel gehörten.
Donnerstag, den 23. November 2023, 19.00 Uhr
Stadtarchiv Herne, Kulturzentrum
44623 Herne
Willi-Pohlmann-Platz 1
Ganz Normale Täter? Die Ordnungspolizei im Nationalsozialistischen Vernichtungskrieg.
Vortrag von Stefan Klemp
Offiziell wurden Polizeibataillone während des Zwei- ten Weltkrieges eingesetzt, um das „rückwärtige Heeresgebiet zu befrieden”. Tatsächlich bestand die Hauptaufgabe dieser „ganz normalen Männer“ in der Umsetzung der NS-Vernichtungspolitik.Stefan Klemp istVerfasser des Standardwerks »Nichtermittelt. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz«.In seinem Vortrag thematisiert er den Einsatz derOrdnungspolizei und führt auch vor Augen, dass esfür die Täter immer Handlungsoptionen gab. Seine Analyse bezieht die fehlgeschlagene Ahndung derVerbrechen der Ordnungspolizei durch die bun- desdeutsche Justiz mit ein. Dabei geht es auch um die Frage, wie die Beteiligten mit ihren Erlebnissen umgegangen sind.
Donnerstag, den 7. Dezember 2023, 19.00 Uhr
VHS-Herne, Raum 64, Kulturzentrum
44623 Herne
Willi-Pohlmann-Platz 1
„Die Betreffenden sind zu vernichten.“ Verbrechen der Gestapo in der Endphase des Zweiten Weltkrieges.
Vortrag von Markus Günnewig (Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache in Dortmund)
In den letzten Kriegswochen erschossen Gestapo- Kommandos mehrere Tausend Menschen -vor allem sowjetische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Bei diesen Massenexekutionen handelte es sich nicht nur um die lokal schwersten NS-Verbrechen, sie wa- ren gleichzeitig Höhepunkt einer Entwicklung, die bereits mit Kriegsbeginn ihren Anfang genommen hatte. Der steigende Kontrollverlust an der „Heimat- front“ wurde mit brutaler Gewalt beantwortet. Bis zuletzt. Im Zusammenhang mit der Räumung von Ge- fängnissen und Lagern wurden unzählige Häftlinge ermordet. Der sogenannte Ruhrkessel gehörte dabei zu den opferreichsten Regionen.
Donnerstag, den 18. Januar 2023, 19.00 Uhr
Stadtteilzentrum Pluto, Veranstaltungssaal
44649 Herne
Wilhelmstraße 89a
Gedenken an die Opfer der Shoah
Die städtische Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Opfer der Shoah beginnt um 12 Uhr im großen Saal des Kulturzentrums Herne.Oberbürgermeister Frank Dudda wird die Gedenk- rede für die Stadt Herne halten, Schüler*innen der Gesamtschule Wanne-Eickel stellen einen Beitrag zum Thema vor.Im Anschluss werden am Shoah-Mahnmal auf dem Wwilli-Pohlmann-Platz Gebete von Vertretern der jüdischen und der islamischen Gemeinde sowie der katholischen und der evangelischen Kirche ge- sprochen.
Freitag, den 26. Januar 2024, 12.00 Uhr
Kulturzentrum Herne, Großer Saal
44623 Herne
Willi-Pohlmann-Platz 1
Treppe ins Ungewisse. Ein Theaterstück über Euthanasie und Zwangssterilisation in der NS-Zeit
Das Stück „Treppe ins Ungewisse“ des theater odos aus Münster bringt auf Grundlage von Zeit- zeugenberichten, Gerichtsurteilen und histori- schen Studien die Auseinandersetzung mit dem Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten auf die Bühne. „Es ist ein Theaterabend, der aufrüt- telt, nachwirkt und mahnt. Eine Stunde lang bieten die Künstler zum Leben erweckte Zeitgeschichte, rütteln auf, schockieren, berühren durch die Gedan- ken und Zeugenberichte“, urteilten die Westfälischen Nachrichten.Im Anschluss an das Theaterstück werden Udo Jakat und Eberhard Bluhm, Mitglieder des Förder- kreises Mahn- und Gedenkstätte Polizeigefängnis Herne, über die Opfer der Euthanasie aus Herneund Wanne-Eickel informieren.Die Veranstaltung findet in Kooperation mit der Evangelischen Kirchengemeinde Haranni statt.
Dienstag, den 30. Januar 2023, 19.00 Uhr
Ludwig Steil Forum,
44623 Herne
Europaplatz 2
Familiengeschichte(n). Ein Workshop zur Spurensuche im Nationalsozialismus
Mit Karolin Baumann und Annina Hofferberth (LeiterinnendesProjekts „Erzählmal“imGeschichtsort Villa ten Hompel, Münster), Flemming Menges (Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge) und Ralf Piorr (Historiker).Wie haben meine Großeltern im Nationalsozialismus gelebt? Welche Erfahrungen haben meine Eltern als Kriegskinder gemacht? Wie wird darüber in meiner Familie gesprochen? Was bedeutet das für mich? In diesem Workshop erkunden die Teilnehmer*innen Potentiale und Fallstricke von familiengeschichtlichen Zugängen zur NS-Geschichte und lernen Ansätze für Recherchen kennen. Nach dem Workshop findet eine offene Sprechstunde statt. Dabei besteht Gelegenheit, eigene Dokumente wie Tagebücher oder Fotografien vorzulegen und über persönliche Erfahrungen ins Gespräch zu kommen.
Die Teilnahme am Workshop ist kostenlos, die Teilnehmer*innenzahl allerdings begrenzt. Um eine Anmeldung per E-Mail wird gebeten: emschertal-museum@herne.de
Samstag, den 10. Februar 2024, 14.00 Uhr – 17.00 Uhr
Heimatmuseum Unser Fritz
44653 Herne
Unser-Fritz-Straße 108